Von den Akten zur Begegnung: Wie aus einer Recherche ein Begegnungstreffen mit Nachfahren von Holocaustüberlebenden wurde
Von Christina van Laack, Redaktion Robin Richterich
Aus Anlass des Gedenktages an die Novemberpogrome 1938 veröffentlicht das Kultur- und Stadthistorische Museum mit dem Duisburger Zentrum für Erinnerungskultur den folgenden Text.
Es ist Freitagmorgen, der 1. April 2022. Dreißig Schülerinnen und Schüler des Abtei-Gymnasiums Duisburg-Hamborn haben sich gemeinsam mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, Mitgliedern des Bezirksrates Hamborn sowie vierzehn Nachfahren der Familie Meisels aus Israel auf der Dahlstraße 13 in Marxloh versammelt. Mittendrin ein hochbetagter Herr, der sich in der Kälte dieses Tages auf den Weg gemacht hat, um sich von seinem alten Schulfreund zu verabschieden.
Die Geschichte beginnt bereits vor vier Jahren. Im Januar 2018 besucht die Projektgruppe „Das Abtei vergisst nicht!“ das Zentrum für Erinnerungskultur (ZfE) in Duisburg, um zu Biografien von Duisburgerinnen und Duisburgern zu recherchieren, die dem Regime der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind.
Für die meisten Schülerinnen und Schüler bilden schwarz-weiße Bilder und Filmsequenzen vor ihrem inneren Auge die Ausgangslage ihres Geschichtsbildes, wenn sie an die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust denken. Das Thema wirkt auf sie abstrakt, unwirklich, weit weg. „So etwas würde doch heute nicht mehr passieren!“, „Das geschah anderswo, aber doch nicht hier bei uns!“, sind gängige Floskeln, die Lehrerinnen und Lehrern im Unterricht begegnen.
Die Intention der Schule hinter dem dauerhaft etablierten Projekt ist, für die Schülerinnen und Schüler einen Zugang zur Geschichte zu ermöglichen. Ziel ist es, durch den Lokalbezug und das Erzeugen von Empathie mit einzelnen historischen Akteuren aus ihrem bekannten Umfeld eine persönliche Relevanz und Betroffenheit zu erzeugen, aus der heraus ein individuelles Narrativ zur Weitergabe an künftige Generationen entsteht.
Im ZfE recherchieren und bündeln die Mitarbeiter Robin Richterich und Dr. Andreas Pilger zunächst Dokumente zu verschiedenen Familien und Personen, anhand derer die Biografien rekonstruiert werden sollen. Darunter auch Dokumente zu Familie Meisels aus Hamborn, die auch einen konkreten Bezug zum Abtei-Gymnasium aufweist.
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Die Biografie wird auf der Schulwebsite veröffentlicht, die für die Arbeit im Rahmen der Erinnerungskultur am Abtei-Gymnasium eingerichtet wurde. Diese ist über einen QR-Code abrufbar, der auf insgesamt 18 kleinen Mahnmalen angebracht ist, die über die Stadt Duisburg verteilt stehen.
Gut 3000 Kilometer entfernt begibt sich Ido Reiss, ein Nachfahre des ältesten Sohnes der Meisels, Reinhold, auf Spurensuche zu seinen Vorfahren aus Duisburg. In der Familie hat man kaum über das Thema gesprochen, die jüngere Generation ist aber neugierig und will mehr über die Herkunft der Familie erfahren. Dabei stößt er auf die Website des Abtei-Gymnasiums und nimmt den Kontakt auf.
“During the the first COVID-19 lock down, a good friend of mine was turning obsessed with looking after his family history in Germany, and had some nice findings. So I googled my grandfather’s name and found the page on the school’s website.” (Ido Reiss, 2022)
Er hat von der Möglichkeit gehört, Stolpersteine für die Opfer des NS-Regimes verlegen zu lassen. Ido Reiss und seine Familie würden dafür gerne selbst nach Deutschland kommen. Das Abtei-Gymnasium übernimmt gemeinsam mit dem Jugendring Duisburg die Organisation. Die Arbeit an der Familienbiografie wird neu aufgerollt, denn nun steht durch den Beitrag der Familie ein enormer Fundus an Dokumenten zur Verfügung. Dieser Mammutaufgabe widmet sich nun die nächste Schülergeneration, die Klasse 7c. So machen sich die Schülerinnen und Schüler an die Arbeit, die vielen Dokumente zu sichten, wichtige Anhaltspunkte zusammenzufassen und diese zu einer komplexen Narration zusammenzuführen. Dabei besteht kontinuierlich enger Kontakt zu den Nachfahren der Familie in Israel, die auf Nachfragen weitere Hinweise geben, sowie zum Zentrum für Erinnerungskultur in Duisburg, das mit der gezielten Recherche nach weiteren Dokumenten sowie Literatur zur Stadtgeschichte weiterhilft.
“My grandfather didn’t speak about the life in Germany, even when asked directly. But his little sister, Bertha, loved to talk about it and to tell stories about their childhood. She told my mother about what happened in Pogromnacht, and about visiting her father in Dachau. All the photos we have are from her.” (Ido Reiss, 2022)
Die Geschichte der Familie ähnelt der vieler, die unter dem NS-Regime verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Familie Meisels, führte in den 1930er Jahren ein Lebensmittelgeschäft auf der Dahlstraße 13 in Marxloh, zwanzig Gehminuten vom Abtei-Gymnasium entfernt.[1]
Familienvater Jakob (geb. 06.01.1892 in Turka, Ostgalizien) war 1916 aus Gelsenkirchen nach Hamborn gekommen, wo er sich 1921 in der Dahlstraße mit dem Geschäft niederließ. Er und seine Frau Ida (geb. Erdmann 08.07.1896 in Felsztyn, Galizien), lebten gemeinsam mit den drei Kindern Reinhold (geb. 20.02.1916 in Bochum), Berta (geb. 18.02.1923 in Hamborn) und Werner (geb. 10.04.1929 in Hamborn)[2] in einer 6-Zimmerwohnung über dem Geschäft.[3] Der Vater war aktives Gemeindemitglied, wurde sogar 1937 in den Synagogenvorstand in Hamborn gewählt[4], des Stadtteils dessen jüdische Bevölkerung seit Ende des 19. Jahrhunderts stark angewachsen war, wodurch er nun eine eigene Synagoge (Kaiser-Friedrich-Str. 33) erhielt.[5]
Der älteste Sohn Reinhold, im Jahr 1938 22 Jahre alt, hat die städtische Oberrealschule als Musterschüler abgeschlossen.[6] Sein Leistungsbuch des deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen weist das Reichsjugendabzeichen aus.[7] Nach der Schule legte er sogar das Reichs-Sportabzeichen in Bronze ab.[8]
Tochter Berta besuchte das staatliche Oberlyzeum (heutiges Abtei-Gymnasium) in Hamborn.[9] Für eine bevorstehende Ehe wurde frühzeitig mit dem Abschluss einer Aussteuerversicherung vorgesorgt.[10]
Auch der jüngste Sohn Werner war in das gesellschaftliche Leben und den Alltag in Hamborn integriert. Er besuchte die Grundschule in der Gertrudenstraße, war ein normaler Schüler, der gut mit seinen Kameraden auskam. Die wussten zwar, dass er Jude war, doch das spielte zu diesem Zeitpunkt für sie keine Rolle. Sein Freund Karlheinz besuchte ihn regelmäßig zuhause. Dort spielten die Jungen gemeinsam mit Werners elektrischer Eisenbahn. Etwas ganz Besonderes zur damaligen Zeit. Er hatte sogar ein eigenes Zimmer.[11]
Am Morgen des 10. November 1938 kam plötzlich eine Angestellte der Meisels in die Klasse. Karlheinz erinnert sich: „Als plötzlich die Tür aufging, [die] Hausangestellte reinkam, hat mit ihm gesprochen […] und dann musste er seine Sachen packen und dann war er für uns verschwunden.“ Als er und die anderen Schulkameraden auf dem Heimweg am Geschäft der Meisels vorbeikommen, sahen sie die Zerstörung.[12]
Audio 1: Karlheinz Bredendiek (Jg. 1928) erinnert sich an die Folgen des Novemberpogroms.
Die Familie ereilte das gleiche Schicksal wie viele andere Bürger jüdischen Glaubens in der Pogromnacht. Im Polizeibericht des Abschnittskommandos III über die „Maßnahmen gegen Juden“ wird die Zerstörung des Geschäfts der Meisels sowie die Festnahme Jakobs am Morgen danach dokumentiert.[13] Seit 1937 ist das Geschäft der Familie nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen ausgesetzt gewesen. Am Morgen des 10. Novembers 1938 wurden schließlich die Geschäftseinrichtung sowie die Küche der Privatwohnung darüber, durch SA-Leute zerstört. Den Rest musste Jakob Meisels später zu Schleuderpreisen verkaufen.[14]
Nach seiner Festnahme am gleichen Morgen war Jakob vom 17.11.1938 bis zum 16.12.1938 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert.[15] Das Aufnahmeregister führte ihn unter der Nummer 29884.[16] Die Familie änderte 1939 gezwungenermaßen noch ihren Aufenthaltsort zur Dahlstraße 50 und musste dann in das „Judenhaus“ Baustraße 34/36 in Meiderich ziehen.[17] [18]
Die Enkel Jakobs können heute kaum nachvollziehen, warum Jakob und seine Frau Ida Nazi- Deuschland nicht verlassen haben: “We don’t understand how my great grandfather and great grandmother did not understand that Germany is not a place to stay in.” (Ido Reiss, 2022)
Ob sie Ausreise oder Fluchtpläne hatten, ist nicht bekannt. Die beiden älteren Kinder Reinhold und Berta schaffen es zu fliehen. Reinhold hielt sich nach seinem Abitur 1935 in Nürnberg und Hamburg auf. Zuletzt war er in Urfeld bei Bonn Leiter der jüdischen Auswanderer-Organisation. 1940 begab er sich schließlich auf die Flucht.[19] Seine Tätigkeit für die Auswanderer-Organisation erleichterte wahrscheinlich seine Flucht. Aus seiner umfangreichen Korrespondenz geht hervor, welch langen und mühsamen Weg er hinter sich gebracht hat. In einem abschließenden Brief an seine Schwester Berta rekapituliert er seine Flucht beginnend 1940 über Triest, Rom, Palma, Barcelona, Lissabon, Lourenco-Marques (seit 1975 Maputo) in Mosambik, Mombasa in Kenia und schließlich über Suez bis nach Palästina 1942. Diese Zeit war stets durch die Schwierigkeit geprägt ein Visum zu erhalten und längere Zeit untertauchen zu müssen.[20] Reinhold lebte ab 1967 im Kibbuz Gal Ed.[21]
Die Eltern Jakob und Ida wurden – vermutlich zusammen mit Werner – nach Izbica (ein Durchgangsghetto in Polen) deportiert, wo alle drei am 8. Mai 1945 für tot erklärt wurden.[22] In einem letzten Rot-Kreuz-Brief an Berta, die sich ab 1942 ebenfalls in Palästina aufhielt, schrieben sie: “Geliebtes Kind! Sind gesund, wandern Sonntag nach dem Kreis Lublin. Regina bereits dort. Sei tapfer und bleibe gesund. Auf frohes Wiedersehen. Viele Grüsse und Küsse” (Vgl. Abb. 8).
Die Schülerinnen und Schüler arbeiten alles akribisch auf. Erst am Ende der Rekonstruktionsarbeit sendet die Familie schließlich Familienfotos von damals. Ein bewegender Moment für die Schülerinnen und Schüler, die nun erstmals Gesichter der Menschen vor Augen haben, deren Geschichte sie erzählen.
Eine Ausstellung auf Plakaten im Schulfoyer visualisiert die Familiengeschichte für die Schulgemeinde und wird der Anlaufpunkt der Familie bei ihrem Besuch sein. Im Vorfeld planen die Nachfahren mit den Schülern die Zeremonie. Sie soll möglichst einfach gehalten werden.
Vier Schülerinnen und Schüler lesen den letzten Brief der Eltern an Berta sowie Reinholds Schilderung seiner langen Flucht vor. Die Familie spricht das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Werners Schulfreund Karlheinz ist nun in Gedanken.
Reinholds Nachfahren freuen sich sehr, ihn kennenzulernen und hören seinen Erzählungen gebannt zu, genauso wie die Schülerinnen und Schüler, für die diese Art des Geschichtsunterrichts eine ganz neue Erfahrung war.
Audio 2, 3 und 4: Die Schüler/innen Dogukaan, Timur und Fiona sprechen über die Besonderheiten des Projekts.
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Nach der Stolpersteinverlegung besucht die Familie das Kultur- und Stadthistorische Museum/Zentrum für Erinnerungskultur Duisburg und kommt mit Robin Richterich ins Gespräch. Gemeinsam werden die individuellen Zugänge zur Geschichte des NS in Duisburg ausgetauscht und weitere Dokumente zur Rekonstruktion der Familienbiografie abgeglichen.
Für die Zukunft der gemeinsamen Erinnerungskultur sieht die Familie eine Aufgabe:
“Remembering is not for penance, but its purpose is to be a lighthouse, so nothing like this will happen again.” (Ido Reiss, 2022)
[1] Stadtarchiv Duisburg, Bestand 506/4789. Entschädigungsakte von Reinhold Meisels.
[2] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223.
[3] Stadtarchiv Duisburg, Bestand 506/4789. Entschädigungsakte von Reinhold Meisels.
[4] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223.
[5] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 1, S. 566.
[6] Städtische Oberrealschule in Duisburg-Hamborn: Zeugnis der Reife, inkl. Vermerkt des „israelitischen Bekenntnisses“, 20.02.1935, Dokument im Familienbesitz.
[7] deutscher Reichsausschuß für Leibesübungen: Leistungsbuch, 11.01.1932, Dokument im Familienbesitz.
[8] Deutsches Reichs-Sportabzeichen für Männer 31.01.1935, Dokument im Familienbesitz.
[9] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223.
[10] Stadtarchiv Duisburg, Bestand 506/4789. Entschädigungsakte von Reinhold Meisels.
[11] Interview von Christina van Laack mit Karlheinz Bredendiek am 07.04.2022.
[12] Interview von Christina van Laack mit Karlheinz Bredendiek am 07.04.2022.
[13] Stadtarchiv Duisburg Bestand 306/253, Bl. 23.
[14] Stadtarchiv Duisburg, Bestand 506/4789. Entschädigungsakte von Reinhold Meisels.
[15] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223 / Aufnahmeregister Dachau.
[16] Aufnahmeregister Dachau, 17.11.1938, Auszug übermittelt von der KZ-Gedenkstätte Dachau.
[17] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223 / Stadtarchiv Duisburg, Bestand 506/4789. Entschädigungsakte von Reinhold Meisels.
[18] Die jüdische Gemeinde hatte die Synagoge, die in der gleichen Nacht zerstört wurde und zuletzt auf der Kaiser-Friedrich-Straße 33 gelegen war, bereits am 01.11.1938 an einen nichtjüdischen Installationsmeister veräußert, was die Nazis jedoch nicht davon abhielt, die Synagoge fälschlicherweise in der Pogromnacht anzuzünden. Vgl: Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 1, S. 569.
[19] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223.
[20] Meisels, Reinhold: Im März 1940 verliess ich Duisburg…, Auszug aus einem Brief aus dem Familienbesitz.
[21] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223.
[22] Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Bd. 2, S. 1223.