Der lange Schatten antiker Objekte – Was wissen wir über unsere Exponate?
Teil 2/6: Herkunft: Mexiko
„Pretty Lady“
Die Dokumentation der Provenienz unterscheidet sich in der Sammlung Köhler-Osbahr von Stück zu Stück sehr stark. Gut dokumentiert ist zum Beispiel eine Keramikstatuette aus Mexiko. Wir wissen, dass Herr Dr. Köhler die Figur im Jahr 1985 beim Auktionshaus Ketterer in München für 1000 DM erworben hat. Vor der Auktion war die Figur kunstgeschichtlich bestimmt worden. Demnach gehört sie zu Figuren vom Typ „pretty lady“ und datiert in die Zeit von 1200 bis 600 v. Chr. In der mesoamerikanischen Chronologie ist das die vorklassische Periode, lange vor den Azteken. Figuren vom gleichen Typ wurden in der antiken Stätte Tlapacoya östlich von Mexiko-Stadt und im angrenzenden Bundesstaat Morelos südlich von Mexiko-Stadt gefunden. Tlapacoya ist einer der wichtigsten Stätten für die gut erforschte Tlatilco-Kultur, neben Tlatilco selbst. In den Aufzeichnungen zur Statuette wird sie dem Fundort Tlapacoya (auch bekannt unter dem Namen Zohapilco) oder dem Bundesstaat Morelos zugeschrieben. Diese unklare Zuordnung zu Tlapacoya oder einer anderen Stätte auf dem großen Areal des Bundesstaats Morelos deutet daraufhin, dass der Fundort auf dem Wege vom Ausgräber zum Auktionshaus Ketterer nicht weitergegeben worden ist und erst durch den Vergleich mit anderen legal und professionell ausgegrabenen Statuetten nachträglich ungefähr bestimmt wurde. Für einen Antikenhändler würde sich eine solche Nachbestimmung lohnen, denn genauer beschriebene Stücke erzielen einen höheren Preis. Die Stätte Tlapacoya wurde nach 1926 beim Bau einer Autobahn entdeckt und 1950 erstmals vom Archäologen Arturo Pinto Orozco beschrieben. Über die Fundstätte ist außerdem bekannt, dass sich dort 1958 eine Lehmgrube befand. Die Gräber der Lehmgrube stießen bei ihrer Arbeit regelmäßig auf antike Keramikfiguren, die sie an Sammler verkauften, um sich etwas dazu zu verdienen. Heute ist das Gelände längst zum Stadtgebiet der Millionenmetropole Mexiko-Stadt geworden.
Raubgräber in Mexiko sind oft landlose Bauern und arme Tagelöhner, die Objekte verkaufen, auf die sie zufällig bei ihrer Arbeit stoßen. Allerdings gibt es auch Banden, die gezielt bestimmte Stätten ausgraben. Anders als die Bauern sind diese der organisierten Kriminalität zuzuordnen. Sie sind bewaffnet und unterhalten Kontakte zu Schmugglern, während Bauern und Tagelöhner auf Mittelsmänner angewiesen sind. Entsprechend erhalten sie für ihre Funde auch nur geringe Preise, während die Banden, die Schmuggler und schließlich die Kunsthändler immer höhere Summen erzielen. Besonders der dünn besiedelte Westen Mexikos ist seit den 1970er-Jahren stark von Raubgräberei betroffen. Im Vergleich zu den frühen Hochkulturen in Zentralmexiko und auf der Halbinsel Yucatán sind die Kulturen Westmexikos weniger gut durch Archäologen erforscht. Hier ist die Zuordnung zu einem Grabungsort besonders schwer. Die Zerstörung der Fundkontexte durch Grabräuber sorgt zudem dafür, dass eine zukünftige Erforschung durch Archäologen kaum noch möglich sein wird.
Ein Schatzregal wie in Europa gibt es in Mexiko bereits seit 1896. Die Ausfuhr archäologischer Objekte aus Mexiko ist hingegen schon seit 1827 verboten. Dass die „pretty lady“ auf legalem Wege nach München gekommen ist, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, ist aber sehr unwahrscheinlich. Im Jahr 1970 verabschiedete die UNESCO das „Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut“. Zwei Jahre darauf ratifizierte Mexiko das Übereinkommen und modernisierte seine Regelung für den Kulturgüterschutz mit dem „Bundesgesetz über archäologische, künstlerische und historische Denkmäler“. Damit war Mexiko das achte Land, das der UNESCO-Konvention beitrat. Die Bundesrepublik Deutschland folgte erst im Jahr 2007 auf Platz 115. Der Unterschied lässt sich damit erklären, dass Mexiko zu den großen Verlierern des internationalen Antikenschmuggels zählt. Der Kunstmarkt in Deutschland und mit ihm in gewissem Maße auch die Museen haben hingegen stark davon profitiert. Durch erfolgreiche Lobbyarbeit konnte die Ratifizierung 37 Jahre hinausgezögert werden.
Axtkopf
Unter den mexikanischen Objekten der Sammlung befindet sich außerdem ein steinerner Axtkopf. Den Aufzeichnungen zufolge hat Herr Dr. Köhler ihn für 60 DM erworben. Wann und von wem ist nicht verzeichnet. Interessanterweise ist hier allerdings ein genauer Fundort angegeben: Die Ruinenstadt Kabah im mexikanischen Bundestaat Yucatán. Außerdem ist ein Zeitraum von 600–1000 n. Chr. als Entstehungszeit angegeben. Kabah wurde erstmals 1841 durch einen westlichen Autoren beschrieben. Sollte der Axtkopf wirklich von dort stammen, kann er nicht legal außer Landes geschafft worden sein, denn dazu hätte er vor 1827 gefunden werden müssen, also bevor die Ruinenstadt bekannt wurde. Die grobe zeitliche Einordnung in den Aufzeichnungen entspricht ungefähr der Zeit, in der Kabah eine bewohnte Stadt war. Für diese Bestimmung war eine genaue Auswertung des Fundkontextes also nicht notwendig.
Als alternativer Herkunftsort des Axtkopfs ist die Ruinenstadt Palenque im Bundestaat Chiapas angegeben – allerdings mit einem Fragezeichen versehen. Im Gegensatz zu Kabah wurde Palenque schon im späten 18. Jahrhundert von den spanischen Kolonisatoren erkundet. Ob dabei auch Artefakte geborgen wurden, die anschließend auf den Kunstmarkt gelangt sind, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In den erhalten Schriftdokumenten der vorkolumbianischen Zeit wird Palenque erstmals im 5. und zuletzt im 9. Jahrhundert nach Christus erwähnt. In den 1940er Jahren begannen in Palenque die ersten professionellen, also dokumentierten archäologischen Grabungen, deren Ergebnisse auch publiziert wurden. Im Jahr 1959 gab es bereits einen Reiseführer auf Spanisch. Ab den 1960er-Jahren wurde die Ruinenstadt einem breiten Publikum in Nordamerika und Europa durch populärwissenschaftliche Publikationen bekannt. In den 1970er- bis 2000er-Jahren, in denen die Sammlung Köhler-Osbahr entstand, entwickelten sich Kabah und Palenque zu hochfrequentierten Touristenzielen. Manche der Fremdenführer verdienten sich etwas dazu, indem sie den Touristen gefälschte oder illegal ausgegrabene Artefakte verkauften. Diese Praxis ist typisch für Entwicklungs- und Schwellenländer mit einem reichen archäologischen Erbe und hält bis heute an. Der Preis von 60 DM ist im Vergleich zu anderen Lateinamerika-Objekten der Sammlung, die für mehrere hundert oder wenige tausend DM Einkaufspreis auf Auktionen erstanden wurden, auffällig gering. In Verbindung mit den fehlenden Angaben zu Verkäufer und Ankaufsjahr erhärtet sich der Verdacht, dass es sich hier um ein Touristenmitbringsel von einer der beiden Ruinenstädte handelt.
Dr. Dennis Beckmann