Bernhard Birkenstock – Ein Schüler aus Weilburg raucht im Museum
Ein Gastbeitrag von Volker Schmidt, Schriftleiter des Vereins „Wilinaburgia“
Die Tabakindustrie spielte im 18. und im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle in der Wirtschaftsgeschichte der Stadt Duisburg. Entsprechend ist diesem Thema ein eigener Bereich in der stadtgeschichtlichen Dauerausstellung gewidmet. Im Vordergrund stehen dort die Familien Böninger und Carstanjen, die den Tabakhandel jener Zeit dominierten. Aber daneben findet sich hier auch, fast ein bisschen versteckt, die Darstellung eines rauchenden Schülers in burschenschaftlicher Uniform. Wer ist dieser junge Mann?
Bereits 1928 hatte sich der Pfarrer Florens Ernst Stuhl (1871–1951) aus Ulm bei Weilburg mit ihm beschäftigt. Unter dem Titel „Wie ein Wilinaburge vor 110 Jahren aussah“. Als „Wilinaburge“ werden bis heute die Angehörigen des Gymnasiums Philippinum in Weilburg bezeichnet. Stuhl befasste sich in seinem Artikel mit dem 1801 in Erbach im Rheingau geborenen Ferdinand Melchior Bernhard Birkenstock. Dieser Mitbegründer des Bonner Studentencorps „Rhenania“ starb im Alter von 31 Jahren als nassauischer Jurist in Limburg. Von ihm stammt das sogenannte „Stammbuchblatt“, das einen Weilburger Gymnasiasten aus dem Jahr 1817 zeigt und welches sich heute im Bestand des Kultur- und Stadthistorischen Museums befindet.
Stammbuchblätter, nicht zu verwechseln mit den standesamtlichen Urkunden unserer Zeit, waren seit der Reformation besonders unter Studenten weit verbreitet und so etwas wie ein facebook-Eintrag heute. Meyers Großes Konversationslexikon beschrieb die schon verblassende studentische Kultur 1902 so: „Stammbücher sind meist kostbar ausgestattete Albums, jeweils von einer Person angelegt und von ihr dem Kreise der Angehörigen, Bekannten und namhafteren Zeitgenossen zu handschriftlichen Eintragungen übergeben. Diese Eintragungen enthalten zumeist Sinnsprüche, Lebensregeln, Wünsche für den Besitzer des Buches, in Versen und Prosa, nicht selten bekannte Sprichwörter oder Aussprüche der Dichter zitierend, oft auch Selbständiges bietend; hie und da auf gemeinsame Erlebnisse hindeutend; meist ernste, doch auch scherzhafte und übermütige Worte enthaltend. Neben diesen sind häufig auch Zeichnungen, gelegentlich auch musikalische Eintragungen in den Stammbüchern zu finden. In früherer Zeit weit verbreitet und vieles, was kulturhistorisch wichtig ist, überliefernd, sind die S. seltener geworden und vorwiegend bei der Jugend beliebt geblieben.“ Sie stellten also eine Art Poesiealbum für Akademiker dar und geben Aufschluss über die Biographie ihres Besitzers.
Die in Meyers Lexikon genannten „übermütigen Worte“ finden sich nun in der Tat auf der Rückseite des Blattes, das Stuhl 1928 veröffentlichte.
„Wenn Teufel bethen, Engel fluchen,
Katzen und Mäuse sich besuchen,
Alle Huren keusch und rein,
Dann hör’ ich auf dein Freund zu sein.
Weilburg, d. 27. Aug. 1817“
Diese Reime lagen vor über zweihundert Jahren deutlich jenseits der Anstandsgrenze.
Das wirklich besondere an diesem Aquarell ist jedoch der von Stuhl recherchierte gesellschaftliche Hintergrund. 1817 – im Oktober dieses Jahres fand das „Wartburgfest“ statt, auf dem burschenschaftliche Studenten und ihre Professoren die Einheit und Freiheit der deutschen Nation forderten. Die Einladung zu dem Treffen im Oktober war im August ergangen, dem Monat, in dem Birkenstock seinen Spruch niederschrieb. Die Teilnehmer in ihren landsmannschaftlichen Trachten galten in den Augen der Obrigkeit als Radikale und sollten in den Jahren danach – Stichwort „Karlsbader Beschlüsse“ – polizeilich überwacht und verfolgt werden. Mit seinem Aquarell in einer burschenschaftlichen Uniform hatte Birkenstock, der von 1817 bis 1820 Schüler in Weilburg war, also auch ein politisches Bekenntnis abgelegt, das in Weilburg für Aufregung und entsprechende Reaktionen sorgte. Solche Kleidung war nach den geltenden Schulgesetzen ebenso verboten wie die Zugehörigkeit zu einer landsmannschaftlichen Verbindung, wie sie unter Studenten üblich war.
Stuhl fand heraus, dass die Schule entsprechend reagierte. „Der Prorektor Eichhoff hatte in dieser Zeit unvermutet eine von früheren Kameraden, … unter den Primanern gestiftete Landsmannschaftliche Verbindung mit ihren Dekorationen und Insignien etc. entdeckt. Er zeigte es dem Rektor Schellenberg an. – Am nächsten Morgen ging dieser zu der gewöhnlichen Stunde in seine Prima; hielt eine kurze strafende Anrede, zeigt ihnen in beißender Ironie das Lächerliche ihrer Verbindung: ‚der Lahnländer’, und diktierte einem jeden Teilnehmer 4 Stunden Carzerstrafe! – Damit war alles abgetan, und es verlautete kein Wort mehr darüber.“
Die Anregung zur Gründung der „Lahnania“ dürfte von ehemaligen Schülern ausgegangen sein, die sich schon am Anfang des Jahrhunderts in Marburg und Gießen unter diesem Namen zusammengefunden hatten. Eine von 1826 bis 1831 in Marburg bestehende „Lahnania“ trug dann übrigens genau die blau-weiß-roten Farben, die auch auf Birkenstocks Aquarell zu finden sind: rote Mütze mit Kokarde und weißem Rand, blauen Hosen mit weißen Biesen [abgesteppte Falten], blauem Schlips und rotem Pfeifenkopf.
Drei Jahre später, 1820, sollte Oberschulrat Snell erneut eine Schülerverbindung, die „Concordia“, entdecken. Stuhl fasste die Ereignisse zusammen: Am 17.10. 1820 war der Gymnasiast Adolph Wuth im Gasthaus Zum Ritter in Weilburg mit 3 Studenten eingekehrt. Diese 4 hatten im Lauf des Nachmittags 4 Schoppen [ca. 2 Liter] Rum getrunken und waren abends so voll, daß der Gastwirt Kurz den Stadtschultheiß Dunkelberg und den Polizeidiener wie auch den Pedellen [Schuldiener] benachrichtigte. Diese 3 sorgten für Ruhe und schlossen das Lokal. Wuth wurde deshalb vom Gymnasium verwiesen und mußte am 10.1. morgens die Stadt verlassen. [Er starb 1852 als Medizinalrat in Nastätten.] Trotz des Verbots begleiteten ihn viele Schüler der III. und II. Klasse [Oberstufe] z.T. bis Runkel (Comitat! – studentischer Abschiedsbrauch) In den Stunden fanden sich nur wenige Schüler. Snell vermutete, daß es sich um eine geheime Verbindung handelte, und entdeckte in der Wohnung des Schülers St. George von Runkel auch ein ‚Ordensband’, in der des Schülers Heydenreich die Satzungen der Verbindung.“ Sieben Schüler gehörten der Verbindung an. Die Schule bestrafte sie mit Arrest.
Stuhl vermied es, die Vorgänge politisch einzuordnen. „Den äußeren und inneren Gründen dieser Exzesse nachzugehen mag anderen vorbehalten bleiben …“ Historisch sah er sie im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815.
„Es war die Zeit nach den Befreiungskriegen, wo das durch sie geweckte Feuer der Begeisterung und der stürmische Drang nach Freiheit weiter loderte und zumal die Jugend ergriff, und die Wellen dieser ‚Jugendbewegung’ von damals, wie sie in dem Wartburgfest aufschäumten, mögen auch bis in die Gymnasien im Lande geschlagen sein. Es war überhaupt die Zeit, wo das Gymnasium Philippinum [sic!] in Weilburg eine Krisis durchmachte, insofern es seinen kirchlich-konfessionellen Charakter gänzlich aufgab und sich in ein Landesgymnasium umwandelte, als dieser merkwürdige Wandel in den Sitten und die Abweichung seiner Schüler von der althergebrachten Weise stattfand. Und das alles mag einen fruchtbaren Boden abgegeben haben für das Gedeihen solcher besonderer Verhältnisse. … Wenn wir darum in der Folge von noch strengerer Handhabung der Schulgesetze hören, so wird uns dies auf Grund der bisherigen Vorkommnisse als ganz selbstverständlich erscheinen müssen.“
Die Schule tat auch – und das ganz ohne die Autorität der Kirche – alles, um demokratische Bestrebungen in der Restaurationszeit im Keim zu ersticken. Der Pfarrer aus dem Ulmtal hatte, folgt man seinen letzten Sätzen, durchaus Verständnis für die rigide Kontrolle seitens der Schule und mag sich zur Zeit der Weimarer Republik an diese Epoche zurückgesehnt haben.
Und so erzählt das Bild in der Ausstellung doch noch viel mehr als nur, dass Gymnasiasten gern rauchten – es erzählt von der Geschichte des Weilburger Gymnasiums, vom Leben der Studenten und Schüler im 19. Jahrhundert und nicht zuletzt gewährt es Einblick in die Zeit vor der Märzrevolution 1848.