Den Dolch auf Herz und Nieren prüfen – Ein 700 Jahre alter Witz
Dennis Beckmann berichtet von kuriosen Funden bei der Ausstellungsvorbereitung:
Im nächsten Jahr wird unser Museum eine Sonderausstellung zu den geistlichen Ritterorden in Duisburg zeigen. Bei den Vorbereitungsarbeiten wälze ich Ausstellungskataloge der Vergangenheit, um mir ein Bild davon zu machen, welche Objekte des ritterlichen Lebens in unserer Region erhalten sind und ausgestellt werden können. Dabei musste ich schon zweimal schmunzeln, als ich auf einen Dolchtyp gestoßen bin, der in Deutschland nicht bei seinem wahren Namen genannt wird.
Im Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremen gibt es z.B. ein Exemplar (online anzusehen unter https://nat.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=675876&cachesLoaded=true), das die in Deutschland übliche Bezeichnung „Nierendolch“ bekommen hat, mit der die beschämten Wissenschaftler von der eigentlichen Bedeutung der Griffform ablenken wollen. Im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein (ehemals Ruhrlandmuseum) soll ein anderes Exemplar einen „herzförmigen Handschutz“ aufweisen.
Die Typ-Bezeichnung „Englische Dolche“ führt hingegen auf die richtige Spur. In Großbritannien ist diese Dolchform seit etwa 1300 bildlich nachweisbar. Erst diente sie als Allzweckmesser der einfachen Bevölkerung und stieg dann im 14. Jh. zur ritterlichen Kampfwaffe auf, die bis weit in die Renaissance beliebt war und in reich verzierter Form auch von hochgestellten Herren als Modeaccessoire getragen wurde. Dort war der Dolch als „bollock dagger“ oder „ballock dagger“ bekannt, was am besten mit „Klötendolch“ übersetzt werden kann. Erst die Wissenschaftler des prüden viktorianischen Zeitalters (1837-1901) verfälschten ihn zum „kidney dagger“ (Nierendolch). Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich die zwei getrennten Kugeln zu einem durchgehenden Oval und die Oberkante flachte ab. Der schottische highland dirk stellt die letzte Stufe dieser Entwicklungsreihe dar.
„Welchen Vorteil bringt es dem Besitzer, wenn der Dolch Hoden hat?“, fragen Sie zu Recht. Zum einen ist der Griff aus einem einzigen Stück Holz oder Bein leicht und kostengünstig herzustellen. Mit den beiden Kugeln liegt er bei verschiedenen Griffweisen gut in der Hand und verhindert außerdem ein Abrutschten der Hand auf die Klinge. Das erklärt seine Beliebtheit als Gebrauchsmesser. Um seinen Aufstieg zur beliebten Waffe der Ritter und Söldner zu verstehen, muss man sich auf den Humor des Mittelalters einlassen. Auch wenn die Menschen damals religiöser waren als wir heute, waren sie in vielen Dingen weniger prüde. Es sind Buchmalereien erhalten, die von einem ausgeprägten Fäkalhumor zeugen und an manchen Kirchen findet man noch heute Figuren, die dem Betrachter das bloße Hinterteil oder anderes entgegen strecken (googeln sie mal nach „Sheela na gig“). Als Stichwaffe bietet ein Dolch Penetrations-Anspielungen aller Art geradezu an. Hinzu kommt, dass kurze Waffen verständlicherweise nur auf kurze Entfernungen eingesetzt werden. Im Zweikampf zweier Ritter war es nicht ungewöhnlich, einen Kampf, der zu Pferde begonnen hatte, mit einem Ringkampf im Schlamm zu beenden. Das Ziel der Rauferei war es, dem Gegner mit dem Dolch den Todesstoß zu versetzen. Ungeschützte Stellen waren z.B. der Hals und die Achselhöhle. Um das Reiten in Rüstung zu ermöglichen, musste der Schritt jedoch ebenfalls ungeschützt bleiben. Weniger „ritterlich“ handelnde Kämpfer nutzten diese Schwachstelle aus. Ein Stich in die Oberschenkelarterie führt nach kürzester Zeit zum Tod durch Verblutung. In einer Gesellschaft, die im sexuellen Bereich Penetration mit Dominanz assoziiert, liegt es nicht fern, wenn ein Mann seine Dominanz über einen anderen Mann, der besiegt auf dem Rücken liegt, ausdrückt, indem er ihm seinen Klötendolch an die Kehle legt (oder gleich zusticht sofern eine Gefangennahme für Lösegeld nicht in Frage kommt).
Damit jedoch nicht genug: Um beim Gehen, Reiten, Sitzen und Kämpfen/Arbeiten die jeweils bequemste und praktischste Anordnung am Gürtel zu haben, wurden Dolchscheiden mit Schnüren so am Gürtel befestigt, dass sie lose herabbaumelten und die Schlaufe am Gürtel bei Bedarf aus dem Weg geschoben werden konnte. Aus zeitgenössischen Abbildungen wissen wir, dass Dolche gelegentlich vor dem Bauch getragen wurden. Im Winter konnte es von Vorteil sein, den Mantel entlang der Knopfleiste vor dem Bauch zu schließen, aber den Dolch oder wenigstens dessen Griff, heraus gucken zu lassen, um ihn im Selbstverteidigungsfalle schnell greifen zu können. Wer die sexuelle Anspielung ganzjährig voll auskosten wollte, tat dies jedoch auch ohne praktischen Vorteil.
Wenn Sie mehr über dieses erbauliche Accessoire vergangener Herren-Mode erfahren möchten, kann ich auf den Artikel auf „my armory“ und die einschlägigen Youtubevideos des Antiquitätensammlers Matt Easton und des Herstellers historischer Repliken Todd Cutler verweisen.
http://myarmoury.com/feature_spot_bd.html