Wilhelmine Krämer: Wie das Schicksal einer Alleinerziehenden aus Ruhrort noch heute ihre Nachfahr*innen bewegt
von Kai Ricarda Reinhoff
Während der Recherchearbeiten zu unserer neuen Sonderausstellung „Stolz und Vorteil“, die sich mit privilegierten und benachteiligten Familien in Duisburg beschäftigt, suchte unsere wissenschaftliche Volontärin Kai Ricarda Reinhoff nach Spuren Alleinerziehender in Duisburg. Beim Überfliegen des Wikipedia-Eintrages zu „Alleinerziehende“ stolperte sie über ein Foto. Es zeigte eine gewisse Wilhelmine Krämer mit ihren Kindern – eine Frau aus Ruhrort. Bingo!
Die wenigen Sätze im Wikipedia-Artikel führen sie als historisches Beispiel für die große finanzielle Not an, die einer Frau ereilte, sollte sie überraschend alleinerziehend werden.
Der Erzählung nach schien Wilhelmine Krämer eine Möglichkeit gefunden zu haben, diesem Schicksal ein wenig die Stirn bieten zu können und eine Art Sozialhilfe von außen zu erreichen.
Wer war diese Frau? Und wer hat ihre Geschichte auf Wikipedia geteilt? Die Bildlizenz gab einen Hinweis: Heinrich Krämer – Nachlass Luise H. Löbbermann. Erste Recherchen liefen ins Leere, doch Archivdirektor Dr. Andreas Pilger verwies an Dr. Dennis Beckmann aus dem Binnenschifffahrtsmuseum, dem der Name Löbbermann ein Begriff war. Eins führte zum anderen und der Kontakt zu den Nachkommen der Familie Löbbermann konnte hergestellt werden. Nach einem kurzen Mailwechsel war schnell ein Termin gefunden. Urgroßenkel Michael Weber und seine Mutter, Enkelin von Wilhelmine, kamen für ein Gespräch ins Museum. Sichtlich bewegt begannen beide vom Schicksal ihrer Vorfahrin zu erzählen…
Wilhelmine Krämer kam am 18. August 1883 in s’Heerensberg in den Niederlanden als Wilhelmine Johanna Boesveld zur Welt. Ihre Mutter starb als sie drei Jahre alt war. Als Wilhelmines Vater kurz vor 1900 (er hatte bereits neu geheiratet) Arbeit in Ruhrort fand, ging es an den Rhein. 1905 wurde die Stadt eingemeindet und gehört seitdem zu Duisburg. Ein erheblicher Anteil der Einwohner*innen Ruhrorts hatte einen niederländischen Migrationshintergrund, da der Hafen und die Schifffahrt Arbeit versprachen. 1929 lebten etwa 21.000 Ausländer*innen in Duisburg. Die größte Gruppe stellten die Niederländer*innen, die traditionell als Reeder und Kaufleute eng mit der Stadt verbunden waren.
Die 17-Jährige Wilhelmine lernte bald den 22-Jährigen Heinrich Krämer aus der Nachbarschaft in Ruhrort kennen. Schnell folgte eine Schwangerschaft, die für einen heftigen Familienstreit sorgte, da Wilhelmine und Heinrich nicht verheiratet waren. Ups! Also wurde wenige Monate später, am 4. Oktober 1900, in Schermbeck geheiratet. Acht Tage nach der Hochzeit gebar sie Tochter „Mine“, der sieben weitere Geschwister folgen sollten. Da Heinrich als Maurer für die Phönix Hüttenwerke AG arbeitete, bewohnte die Familie in Duisburg-Laar – einem stark durch die Hochöfen geprägter Stadtteil – ein Mehrfamilienhaus in der Haldenstraße 14, welches Eigentum des Konzerns war.
Mit Mitte 30 wurden bei Wilhelmine Geschwüre in der Gebärmutter gefunden. „[Das] könnte auch von den Abtreibungen gekommen sein, die man früher mit Stricknadeln vorgenommen hatte, wodurch häufig die Gebärmutterwand beschädigt wurde“ erzählt Michael Weber in Bezug auf die Erkrankung Wilhelmines. Doch dann wurde klar, dass sie an Krebs erkrankt war. Eine Operation zur Entfernung der Gebärmutter lehnte sie aber ab. Zu groß war ihr das Risiko, dabei zu sterben und ihre noch minderjährigen Kinder damit zu Halbwaisen zu machen, so wie sie als Kind eine wurde.
Doch dieses Schicksal ereilte die Kinder trotzdem bald, allerdings nicht mit dem Tod ihrer Mutter: Im Juli 1925 starb Heinrich Krämer auf dem Werksgelände der Phönix Hüttenwerke AG. Während einer Pause hatte Heinrich in einem Verschlag geschlafen, den er mit seinen Kollegen heimlich und unerlaubt in der Nähe eines Hochofens gebaut hatte. So konnten die Hüttenarbeiter während ihrer harten Schicht kurz ihr Grundbedürfnis nach Ruhe stillen. Das Nickerchen wurde ihm allerdings zum Verhängnis – eine Kohlenmonoxidvergiftung tötete ihn im Schlaf.
Wilhelmine war nun Witwe und ohne finanzielle Ressourcen. Was tun? Arbeiten? Unmöglich mit acht Kindern, von denen vier zu dem Zeitpunkt noch minderjährig waren. Das gesammelte Geld von den Nachbar*innen annehmen, die selbst von Armut betroffen waren? Ebenfalls keine Option. Dafür war Wilhelmine zu stolz, merkte Michael Weber im Gespräch an. Also tat Wilhelmine etwas, was wahrscheinlich eine große Ausnahme bleiben sollte: Sie trat bei den „hohen Herren“ des ehemaligen Arbeitgebers ihres toten Mannes vor und bat um Unterstützung. Wie Wilhelmine es schaffte, die Werksleitung davon zu überzeugen, über den Umstand hinwegzusehen, dass Heinrich nicht durch einen Arbeitsunfall starb, bleibt ein Geheimnis. Fest steht, dass sie kostenlos in der Werkswohnung bleiben konnte und eine Witwenrente erhielt. Vielleicht ging man davon aus, dass die todkranke Wilhelmine nicht mehr lange leben würde, was sich nicht ganz bewahrheitete: Erst sechs Jahre später starb sie im Alter von 46 Jahren.
Wie sehr die Geschichte Wilhelmines die Familie Weber heute noch beschäftigt, zeigte sich in vielen Momenten während des Interviews. Resolut, großherzig, aufopferungsvoll – Michael Weber und seine Mutter finden kraftvolle Worte, um ihre Vorfahrin zu beschreiben. Obwohl sie sie nicht kannten, gaben sie, sichtlich ergriffen, die Erzählungen über Wilhelmines bewegtes Leben als alleinerziehende Mutter weiter.
Das Interview war zu Ende. Doch kurz bevor Michael Weber und seine Mutter gingen, holte er eine Paketrolle hervor. Er wisse nicht, ob wir als Museum Interesse daran hätten, aber bei der Durchsicht alter Familiendokumente habe er Zeichnungen aus dem Kunstunterricht seines Onkels Karl Heinz Löbbermann gefunden, dem Sohn von Luise Löbbermann, einer der Töchter von Wilhelmine und Heinrich Krämer.
Was die Zeichnungen Interessantes zu Tage brachten, was sie mit der Wahl der NSDAP von 1933 auf sich haben, und wie sie letztendlich Sammlungszuwachs des Zentrums für Erinnerungskultur wurden, erfahrt ihr in Kürze in einem weiteren Blog-Beitrag des ZfE.