Wie die Anfrage eines Zeitzeugen an das Zentrum für Erinnerungskultur zur Entdeckung einer politischen NS-Affäre und zur Erinnerung an einen vergessenen Mann führte
Immer wieder erreichen uns Anfragen aus Ländern wie Kanada, den USA, Australien oder Israel. Meistens sind sie von Nachfahren von Shoah-Überlenden aus Duisburg, die für ihre geflohenen Eltern, Großeltern, oder für verstorbene Familienmitglieder einen Stolperstein verlegen möchten. Dafür müssen Name, Lebensdaten, der letzte freiwillig gewählte Wohnort, sowie mögliche Verfolgungs- und Fluchtdaten recherchiert werden. Immer seltener hingegen sind Anrufe, die zwar nicht von so weit weg, dafür aber geradewegs aus der Vergangenheit zu kommen scheinen – von jemandem, der sich erinnert.
So auch im Herbst 2023, als der über 90-jährige Friedhelm Kimpel aus Bielefeld sich mit dem Wunsch bei uns meldete, einen Stolperstein für einen jüdischen Nachbarn seiner Großeltern in den 1940er Jahren, Herrn Cahn, zu verlegen. Einen Nachbarn, den er selbst noch kennengelernt hatte, bevor dieser verschwand und nach dem Zweiten Weltkrieg nie wiederkam. Im Laufe unserer Recherche formte sich das Bild der Geschichte dieses Herrn Cahn und seines „Verschwindens“, das sich als Verhaftung herausstellen sollte. Hinzu kam noch, dass diese in eine politische Affäre um den damaligen Duisburger NS-Oberbürgermeister Hermann Freytag verwoben war, für die Herr Cahn zu Unrecht verantwortlich gemacht wurde.
Am Anfang der Recherche stand nur sein Nachname – ob dieser mit K oder C geschrieben wurde, konnte Herr Kimpel nicht sagen. Dafür aber die Adresse Aakerfährstraße 92 in Duisburg. Diese Informationen reichten aus, um Leopold Cahn mithilfe des Werks „Die Geschichte der Duisburger Juden“ von Günter von Roden und Rita Vogedes als den gesuchten Menschen zu identifizieren und die Daten für den Stolperstein zu recherchieren. Eine weitere Information, die Herr Kimpel aus Bielefeld uns gegeben hatte, stimmte außerdem mit dem Eintrag in dem Werk überein: dass Herr Cahn mit einer „Nichtjüdin“ verheiratet war. Somit hatten wir ihn gefunden. Von Rodens und Vogedes‘ Buch lieferte uns neben dem Namen, Geburtsdatum, Beruf und der Adresse aber auch noch folgende Information:
„11.2.1942 wegen Beleidigung des Duisburger Oberbürgermeisters Freytag verhaftet, im Juni zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; am 23.1.1943 von der Justizbehörde an die Gestapo (Auschwitz) überstellt; gest. 4.2.1943 in Auschwitz.“ [1]
Damit stand fest, warum Herr Cahn nach dem Krieg nicht zurückkam. Über die Hintergründe dieser Verhaftung wollten wir mehr erfahren. Der nächste Schritt war deshalb ein Blick in die einschlägigen Archivakten. Das können bei solchen Recherchen zum einen die sogenannten Wiedergutmachungsakten über Entschädigungsverfahren nach dem „Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ ab 1956 sein. Durch die Tatsache, dass Leopold Cahn verhaftet wurde, kam außerdem noch eine Gestapo-Akte in Frage, wie sie bei Verhaftungen in der NS-Zeit angelegt wurden. Beides ließ sich im Stadtarchiv Duisburg und im Landesarchiv NRW finden.
Die verschiedenen Akten mit den ihnen beigefügten Dokumenten ergänzten die Angaben aus dem Buch von von Roden und Vogedes und zeigten eine verworrene Geschichte um verschiedene Gerüchte über NS-Oberbürgermeister Freytag und denunzierende Nachbarinnen, denen Leopold Cahn zum Opfer fiel. Er selbst kommt in den Akten jedoch kaum zu Wort. Nur Herr Kimpel aus Bielefeld kann ein Bild von Leopold Cahn jenseits der Verfolgung zeichnen.
„Ich habe ihn als unglaublich korrekten, ruhigen, liebenswürdigen Mann in Erinnerung und als solcher ist er mir auch in Erinnerung geblieben.“ [2]
Leopold Cahn war als Tiefbauarbeiter tätig und lebte mit seiner christlichen Ehefrau in der Aakerfährstraße 92. Laut eigener Aussage in der Gestapo-Akte musste er 1939 in die Junkernstraße 2 ziehen, wo sich im ehemaligen Jüdischen Gemeindehaus – die dort befindliche Synagoge war bereits vernichtet – ein sogenanntes „Judenhaus“ befand. Dort mussten jüdische Menschen, oder Menschen, die man vor dem Hintergrund der Nürnberger Rassegesetze als Juden definierte, zwangsweise wohnen. Dennoch besuchte er seine Frau häufig, wie sich auch Herr Kimpel im Telefonat erinnerte:
„Ich weiß eigentlich, dass er immer da war. Ich wüsste nicht, dass er mal zeitweise weg gewesen wäre. Dann hätte ich das von meinen Eltern oder Großeltern irgendwie aufgeschnappt.“
Das passt auch zu den Hintergründen seiner Verhaftung am 11. Februar 1942. Zu der kam es, weil eine Nachbarin aus dem Haus, Frau Schulz, einer anderen Nachbarin aus der Gegend, Frau Clever, Dinge erzählt hatte, die Herr Cahn angeblich im Luftschutzkeller gesagt haben soll, in dem sie häufig gemeinsam waren. Dazu zählen Aussagen über den NS-Oberbürgermeister Freytag und Zweifel an den Berichten der Wehrmacht über den laufenden Krieg. Frau Clever hat sich daraufhin nach eigener Aussage in der Gestapo-Akte als „deutsche Frau verpflichtet gefühlt“, Herrn Cahn anzuzeigen, „um dem Juden in seinem Treiben Einhalt zu gebieten.“[3] Ausschlaggebend für die Verhaftung waren vor allem die Gerüchte über Oberbürgermeister Freytag. Dabei ging es zum einen darum, dass Freytag wohl nicht mehr von einer Norwegenreise im Winter 1941/42 zurückkehre, zu der er beordert worden war. Zum anderen ging es in den Gerüchten um angebliche Feiern des Oberbürgermeisters mit Sekt, Fleisch, anderen Luxusgütern und „nackten Mädchen“[4] im Restaurant Dahlem in der Averdunkstraße, während der Rest der Bevölkerung aufgrund des Krieges rationiert leben musste.
Diese Gerüchte waren Anfang 1942 vermutlich weit im Umlauf, wie auch ein Flugblatt mit einem spöttischen Gedicht über Oberbürgermeister Freytag zeigt, das der Gestapo-Akte beiliegt. Freytag stellte im Januar 1942 einen Strafantrag gegen den Urheber und Verbreiter der Gerüchte über seine Norwegenreise. Daraufhin wurde nicht nur Leopold Cahn, sondern auch eine Gruppe Männer verhaftet, die in einem Restaurant ebenfalls das Norwegen-Gerücht besprochen hatten. Zwischen ihnen und Leopold Cahn schien es keine Verbindung gegeben zu haben. Nach einigen Verhören wurde die Gruppe auch wieder freigelassen – Leopold Cahn jedoch nicht. In der Wiedergutmachungsakte wird vermutet, dass das daran lag, dass die Männer der Gruppe im Gegensatz zu Cahn nicht jüdisch waren.
Die Gestapo-Akte zeigt, dass die Nachbarin Frau Schulz im Laufe von Herrn Cahns Haft von ihren Aussagen zurückgetreten ist. In einem Verhörprotokoll von ihr ist zu lesen, dass sie angibt, sich bei ihrer ursprünglichen Aussage geirrt und diese nur vor lauter Aufregung unterschrieben zu haben. Sie betont auch, dass sie aus eigenen Stücken von ihrer Aussage zurücktritt und nicht durch den Einfluss von Frau Cahn. Auch Frau Clever, die Nachbarin, die Frau Schulz‘ Gerüchte der Gestapo übermittelt hatte, wird daraufhin erneut verhört. Sie ist sich jedoch sicher, dass Frau Schulz mehrmals ihr gegenüber erwähnt habe, dass Herr Cahn sich im Luftschutzkeller immer „sehr vorlaut“ verhalte, sich „in jede Unterhaltung einmische[n]“ und „die ganzen Frauen […] bange“ machen würde [5]. Außerdem ist sie sicher, dass Frau Schulz nur aus Druck von Frau Cahn von ihrer Aussage zurückgetreten ist. Das widerspricht dem Bild von Herrn Cahn, dass Herr Kimpel uns am Telefon schilderte:
„Das war so ein bescheidener, ich würde eher sagen introvertierter Mann.“
Die überzeugten Aussagen von Frau Clever schienen nicht auszureichen, um Leopold Cahn als Urheber der Gerüchte hinzustellen und so wurde er am 10. April 1942 aus der Haft entlassen. Danach finden sich mehrere Dokumente in der Gestapo-Akte über einen anderen Fall: Ein NS-Funktionär aus Hamm, der sich umgebracht hat, nachdem herauskam, dass er eine Affäre mit einer Duisburgerin hatte und ihr heimlich Lebensmittel besorgt hatte. In seinem Nachlass sind Briefe von der Frau des Oberbürgermeisters Freytag aufgetaucht, in denen es ebenfalls um Essen geht. Und auch ein anonymes Schreiben in der Akte klagte Freytag wegen des Verzehrs von Sekt und Austern an.
Wahrscheinlich liegt es an diesen Informationen über die Freytags, dass Leopold Cahn am 17. Juni 1942 erneut verhaftet wurde. Im Frühjahr 1942 war der Druck auf die NS-Führung wegen Korruption gestiegen, da die Bevölkerung zunehmend unter den Kriegsbelastungen litt und den Luxus der Eliten immer stärker kritisierte.[6] Gleich am nächsten Tag, dem 18. Juni 1942, erschien ein Artikel in der Nationalzeitung Essen, der ebenfalls der Akte beiliegt. Darin wird Cahn als Urheber der Gerüchte um Oberbürgermeister Freytag im Winter 1941/42 dargestellt.
Nach einem Prozess mit Berufung wurde er am 22.8.1942 wegen übler Nachrede zu einem Jahr Haft verurteilt. Diese Haft würde er jedoch nie mehr verlassen. Am 17.10.1942 wurde er aus dem Gerichtsgefängnis Duisburg ins Männerstrafgefängnis Anrath überführt. Von dort wurde er am 23.1.1943 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert und am 4.2.1943 dort ermordet. In Duisburg erhielt der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dr. Sally Kaufmann, ein Schreiben, in dem steht, Leopold Cahn sei im Krankenbau von Auschwitz an einem Magendarmkatharr verstorben und dort in einem Urnenhain beigesetzt worden. Dieser Umstand belegt auch, dass Persönlichkeiten der Jüdischen Gemeinde in Ausschnitten etwas über das Sterben in Auschwitz erfuhren.
Herr Kimpel aus Bielefeld hat bis zu unserem Telefonat nie erfahren, was mit Leopold Cahn geschehen ist.
Herr Kimpel hat Recht. Wahrscheinlich ist außer ihm wirklich niemand mehr da, der sich an Leopold Cahn erinnert. Im Gegensatz zum Duisburger Oberbürgermeister Hermann Freytag haben wir auch kein Foto von ihm. Es gibt nur noch das Bild aus Herrn Kimpels Erinnerung:
„So ungefähr 150 Meter vom Haus meiner Großeltern gab es so einen Lebensmittelladen. Der hatte auf der Straßenseite, die jetzt bebaut ist, aber die damals völlig unbebaut war, acht oder neun Kühe, die da rumgrasten und die natürlich Milch hatten. Diese Milch wurde im Geschäft verkauft und ich sehe immer den Herrn Cahn vor mir, wie er mit seinem steifen Hut und piccobello angezogen mit der Milchkanne in dieses Milchgeschäft geht. Das habe ich immer vor Augen dieses Bild. Eigenartig, ne?“
Der Fall von Leopold Cahn zeigt nicht nur die diskriminierende NS-Politik, die willkürlich Sündenböcke für eigene Vergehen und Probleme schaffen konnte. Auch die Beteiligung der normalen Bevölkerung wird darin deutlich, denn er wäre vielleicht nie mit den Gerüchten über Hermann Freytag in Verbindung gebracht worden, wenn zwei Nachbarinnen ihnen nicht beschuldigt hätten. Diese Informationen finden sich alle in den Akten des institutionellen Gedächtnisses – des Archivs. Der Person Leopold Cahn können wir uns jedoch nur über die persönlichen Erinnerungen aus der Kindheit von Herrn Kimpel nähern, ohne dessen Anfrage wir wahrscheinlich nicht in die Akten über Leopold Cahn geschaut hätten. Das zeigt, wie wichtig Erinnerungen aus der NS-Zeit sind.
Herr Kimpels Wunsch wurde erfüllt: Am 14 Juni 2024 wurde ein Stolperstein für Leopold Cahn vor dem Haus in der Aakerfährstraße verlegt. Dabei war auch eine Bewohnerin aus dem Haus, die sich ebenfalls noch an Leopold Cahn erinnert. Sie konnte berichten, dass Leopold Cahn vom Dachboden aus Fußballspiele auf dem nahegelegen Sportplatz anschaute – vermutlich hat er dort persönlich keinen Zutritt mehr erhalten.
Ein Beitrag von Carmen Simon Fernandez, Oktober 2024, Redaktion: Robin Richterich
[1] Von Roden, Günter, Geschichte der Duisburger Juden. Duisburger Forschungen Band 34, Teil 2, Walter Braun Verlag 1986, S. 1049.
[2] Herr Kimpel im Telefonat mit dem Zentrum für Erinnerungskultur.
[3] Gestapo-Akte, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, RW 0058 Nr. 7422.
[4] Gestapo-Akte, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, RW 0058 Nr. 7422.
[5] Ebd.
[6] Vgl. Bajohr, Frank, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Fischer Taschenbuch Verlag 2004, S. 164f.