Goebbels wollte den Swing im Inland ausrotten, nutzte aber insgeheim eine Swing-Band mit einem Duisburger Sänger, um im Ausland Radiopropaganda zu verbreiten
Swing war in den 1930er und 1940er Jahren sehr populär. Junge Leute, darunter Soldaten und Arbeiter, ließen sich von der Lebensfreude und dem Freiheitsgefühl mitreißen, die Swing bzw. Jazz vermitteln. Den Nazis war dies ein Dorn im Auge, da Jazz und Swing als entartet galt. Dennoch hörten gerade Jugendliche heimlich Swing und trafen sich trotz der Verbote zum Tanzen. Das NS-Regime setzte alles daran, die Musik von der deutschen Öffentlichkeit fernzuhalten. Die Presseberichterstattung über „Swingcliquen“ war durchweg negativ oder ignorierte die Subkultur. Swing Anhänger*innen drohte das Arbeitslager. Jazz war im deutschen Rundfunk verboten, aber ein reichsweites Swing Verbot der „Reichskulturkammer“ gab es nicht. Das in Filmen gezeigte Schild „Swing tanzen verboten – Reichskulturkammer“ ist ein Fake aus der 1970er Jahren. Wer allerdings seine Liebe zum Swing oder Jazz in der NS-Zeit öffentlich äußerte, wurde oft diffamiert. In einzelnen Lokalen gab es Kontrollen und Verbote. Umso bizarrer und scheinbar widersprüchlich wirkt ein Projekt von Minister Joseph Goebbels, der insgeheim mit einer eigenen Swing-Band NS-Auslandspropaganda über sein verzweigtes Rundfunkwesen verbreiten wollte. So entstand der Nazi-Swing als ein wichtiger Teil der Propaganda-Sendung „Germany Calling“.
Was viele nicht wissen: Der Sänger dieser Band, Karl Schwedler (1902–1970), war gebürtiger Duisburger und eine Schlüsselfigur der doppelbödigen Swing-Propaganda. Karls Vater war Klempner und die Familie wohnte auf der Ruhrorter Str. 91 in Duisburg-Kaßlerfeld. Schwedler absolvierte eine kaufmännische Lehre und wanderte als 21-Jähriger im Jahr 1923 in die Vereinigten Staaten aus, arbeitete in der Musikbranche und leitete eine Konzertagentur Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kehrte er im September 1939 ins Deutsche Reich zurück, gab sich als überzeugter Nazi aus und bewarb sich beim Auswärtigen Amt im „Referat Rundfunkangelegenheiten“.
Schwedler war ein schillernder Charakter, sprach perfekt Englisch und sein Talent zum Singen und Texten war ideal für die englischsprachige Feindpropaganda, die die Deutschen Kurzwellensender ausstrahlten. Schwedler erwies sich als idealer Kandidat und erhielt im November 1939 als Mitarbeiter im Auswärtigen Amt die Einstellungszusage. Der Job als Sänger und Texter war gut bezahlt. Neben der Befreiung vom Militärdienst lockte eine privilegierte Position mit Reisemöglichkeit.
1940 startete Karl Schwedler als Sänger mit dem Bandleader und Saxophonist Lutz Templin. 13 bis 14 Musiker gehörten zur musikalisch gut aufgestellten Band, darunter Freddie Brocksieper, einer der besten Jazz-Drummer Europas mit jüdischen Großeltern. Die Band nannte sich nach Karl Schwedler „Charlie and his Orchestra“. Charlie war Schwedlers Künstlername. Die Swing Kompositionen übernahmen sie vorwiegend aus den USA. Dabei veränderte Charlie die Texte amerikanischer Swing-Klassiker zu üblen antibritischen, antisowjetischen und natürlich antisemitischen Inhalten, die meist einem festen Muster folgten. Die erste Strophe eines jeden Liedes blieb meist unverändert, um die Zuhörer zu locken. Aber der Rest der grotesken Texte sollte demoralisieren, verwirren und den Kriegsgegner lächerlich machen.
Den Text von „I’ve Got a Pocketful of Dreams“ wurde zu „I’m gonna save the world for Wall Street / Gonna fight for Russia, too / I’m fightin‘ for democracy / I’m fightin‘ for the Jew.
Winston Churchill schob er folgenden Text unter: „The Germans are driving me crazy / I thought I had brains / But they shot down my planes“.
In ähnlicher Weise war Franklin D. Roosevelt in den Liedtexten eine Marionette der internationalen Bankenkartelle, und die gesamten Kriegsanstrengungen der Alliierten standen im Dienste „der Juden“. In den meisten von Schwedlers Liedern mischte sich heftiger Antisemitismus mit dem Versuch, das Publikum davon zu überzeugen, dass der Sieg der Nazis unvermeidlich sei.
Die Texte schrieb Karl Schwedler – zumindest teilweise – selbst. Die Begründung zur Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes an Karl Schwedler 1943 bestätigt es, denn dort heißt es: „Er hat sich durch propagandistische Umdichtungen englischer Lieder und propagandistisch wirksame Programmgestaltung des von ihm geleiteten Kabaretts sowie durch Einsatz besonderer Art, von ihm selbst gesungener Propagandaschallplatten besondere Verdienste erworben“. Schwedler, der aus einfachen Verhältnissen stammte, scheint seine privilegierte Position ausgekostet zu haben. Er legte Wert auf exklusive Kleidung, trug Seidenhemden mit SS-Monogramm, wirkte weltläufig, hatte Charme und verkehrte in höchsten NS-Kreisen.
Die Musiker der Band selbst waren überwiegend keine überzeugten Nazis. Die bekannte Berliner Sängerin Evelyn Künneke (1921–2001), die unüberhörbar von der damals in Deutschland politisch verpönten Musikrichtung Swing beeinflusst war, erinnerte sich, dass in der Kapelle erstaunlicherweise auch Sinti, Juden (im Sinne der NS-Rassegesetze) sowie Kommunisten und Homosexuelle spielten.
Charlie and His Orchestra waren für Goebbels‘ Propagandamaschine so wichtig, dass die Band aufgrund der Bombenangriffe 1943 von Berlin nach Stuttgart evakuiert wurde. Neue Orchestermitglieder rekrutierte man in dieser Phase aus Belgien, Italien und den Niederlanden. Charlie blieb in Berlin. Die letzten Sendungen scheinen Anfang April 1945 ausgestrahlt worden zu sein; wenige Tage, bevor die US-Armee das Rheinland einnahm und der Reichssender Stuttgart durch die Sprengung einer sich zurückziehenden SS-Einheit vom Netz ging. Doch die Akteure des Orchesters waren nicht lange außer Gefecht gesetzt. Nach der Kapitulation musizierten sie wieder – vor amerikanischen Soldaten, die den Swing feierten.
Und was geschah mit dem Sänger Karl Schwedler, alias Charlie? Der erwies sich nach 1945 als ebenso anpassungsfähig wie zuvor. Er soll als Croupier in Berlin und unter anderem als Unterhaltungsmanager im Luxushotel Breidenbacher Hof in Düsseldorf gearbeitet haben. Im August 1960 wanderte Schwedler mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Bernd und Scarlet wieder in die Vereinigten Staaten aus. Dort war er nach einem Bericht im Spiegel als Geschäftsmann erfolgreich und zog sich später saniert an den Tegernsee zurück. Eins dürfte feststehen, Schwedlers Tätigkeit für die NS-Propaganda hatte wohl keine Auswirkung auf seine Berufsbiografie nach 1945. Sein Wohnort war Weißach, Gemeinde Kreuth, Wiesseerstr.10. Er verstarb 1970 in Feldafing, vermutlich in einer Privatklinik. In Duisburg nahm man davon keine Notiz. Die extrem raren Schallplatten von »Charlie And His Orchestra« entdeckte später Dr. Rainer E. Lotz, ein Jazz-Forscher und passionierter Plattensammler, auf Trödelmärkten. Das renommierte Jazzinstitut in Darmstadt erinnert ebenfalls an das obskure Kapitel der deutschen Jazzgeschichte in der NS-Zeit.
Autor: Harald Küst, Redaktion: Robin Richterich
Die Recherche wurde vom Stadtarchiv Duisburg, Landesarchiv Rheinland und Gemeindearchiv und Standesamt Feldafing und dem Jazzinstitut Darmstadt unterstützt.
Zum Weiterlesen:
Aumüller, Heiko, Charlie and His Orchestra: Jazz als Mittel der nationalsozialistischen Auslandspropaganda, Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte
Bergmeier, J.P. Horst: Hitler’s Airwaves: The Inside Story of Nazi Radio Broadcasting and Propaganda Swing, Yale University Press, 1997
Bergmeier, J.P. Horst / E. Lotz, Rainer: Charlie and his Orchestra. Ein obskures Kapitel der deutschen Jazzgeschichte. In: Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Deutschland. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 4, Hofheim 1996, S. 13–48
Eisermann, David und Steinbiß, Florian: »Wir haben damals die beste Musik gemacht«, In: Der Spiegel, Nr. 16/1988, online abrufbar unter: https://www.spiegel.de/kultur/wir-haben-damals-die-beste-musik-gemacht-a-632d241e-0002-0001-0000-000013528677
Knauer, Wolfram (Hg.): Jazz in Deutschland. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 4 Hofheim 1996 (Wolke Verlag),
Kringiel, Danny: Goebbels‘ Propaganda-Orchester Wollt ihr den totalen Swing? In: Spiegel Online vom 4.7.2016, online abrufbar unter: https://www.spiegel.de/geschichte/charlie-and-his-orchestra-goebbels-propaganda-band-a-1097505.html
Studdert, Will: Music goes to War. How Britain, Germany and the USA used Jazz as Propaganda in World War II, University of Kent, 2014, online abrufbar unter: https://kar.kent.ac.uk/44008/